Im Mai 1945 besuchten B. Afanasew und K. Suchin, zwei Korrespondenten der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS Potsdam. Die Stadt war seit einem knappen Monat unter sowjetischer Kontrolle. Ihr Bericht, der hier leicht gekürzt wiedergegeben wird, erschien am 22. Mai 1945 unter anderem in der Zeitung „Sowjetskaja Sibir“ (Sowjetisches Sibirien). Sie wurde vom Stadt- und Gebietskomitee der Kommunistischen Partei und dem Arbeiterdeputiertenrat in Nowosibirsk herausgegeben.
Der Artikel stellt ein bedeutsames Zeitdokument dar. Wichtig erscheint vor allem der sowjetische Blick auf die Stadt und ihre Schlösser – insbesondere im Hinblick auf die propagandistische Sprache. Sie richtet sich natürlich an den Leser im fernen Nowosibirsk, gibt allerdings schon jene Lesart für Potsdam und seine Geschichte vor, die kurze Zeit später auch zur staatlichen Lehre und Sichtweise in der DDR werden würde.
Zeitung „Sowjetskaja Sibir“ aus Nowosibirsk vom 22. Mai 1945, S. 2.
In der Residenz der preußischen Könige
Rund dreißig Kilometer vom Zentrum Berlins entfernt, zwischen weitläufigen Waldgebieten und malerischen Seen, erstreckt sich die alte deutsche Stadt Potsdam. Schon beim Durchfahren der Straßen fällt einem die alte Architektur der Bauten ins Auge, die einst höfischen Zwecken der deutschen Aristokratie diente.
Potsdam wurde durch anglo-amerikanische Luftangriffe getroffen. Der Potsdamer Eisenbahnknoten und eine Reihe industrieller Einrichtungen tragen die unübersehbaren Spuren der Arbeit der amerikanischen und englischen Flieger. Der Eisenbahnknoten ist in einen Haufen Ruinen verwandelt, die Schlösser jedoch wurden von den Luftangriffen nicht getroffen.
Die Straßen Potsdams sind belebt. Die Einwohner der Stadt arbeiten am Wiederaufbau von Gebäuden, beräumen die Stadtviertel und gehen ihren Erledigungen nach. Auf den Straßen gibt es regen Autoverkehr.
Die sowjetische Kommandantur hat große Anstrengungen zum Wiederaufbau des städtischen Lebens unternommen. In vielen Straßen haben die Geschäfte geöffnet. Hier bekommen die Potsdamer die ihnen entsprechend ihrer Marken zustehenden Lebensmittel. Ein Netz inzwischen wieder geöffneter Geschäfte sichert die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung.
Wir sind beim Stadtkommandanten. Oberst Andrej Sacharowitsch Werin [1] hat mit dem ersten Tag der Einnahme der Stadt den Posten des Kommandanten inne. Der Mann aus Saratow an der Wolga hat zusammen mit seinen Truppen diese Stadt der Schlösser, die Sommerresidenz der germanischen Zaren [2] eingenommen. Während der Straßenkämpfe konnte er deren „Geographie“ erforschen, nun leitet er die komplizierte und vielfältige Wirtschaft der Stadt.
Potsdam zählt rund 140.000 Einwohner. Hier trifft man auf Menschen mit gänzlich unterschiedlichen Berufen, angefangen vom Arbeiter bis hin zu herausragenden Vertretern der Wissenschaft, Technik und der Kunst. Derzeit ist die Stadt in sieben Stadteile gegliedert [3], in denen unter Führung der Stadteilkommandanten die Vertreter der örtlichen Bevölkerung in Person der Bürgermeister ihre Arbeit verrichten. Der Oberbürgermeister Dr. Zahn [4] vereint alle örtlichen Selbstverwaltungen. Zum Aufbau des normalen Lebens wurden 10 Abteilungen gegründet.
Als wir Potsdam besuchten, wurden gerade die ersten Ausgaben der „Zeitung Rundschau“[5] ausgeliefert. Sofort sammelte sich um die große mobile Lausprecheranlage eine riesige Menschentraube. Die Einwohner der Stadt ergatterten die ersten Ausgaben der Zeitung. Es waren dies die ersten Blätter mit der Wahrheit über die Sowjetunion und die Rote Armee. Die Zeitung wurde sofort und noch auf der Straße gelesen. Noch lange standen die Menschen um die Lautsprecher herum. In Potsdam ist eine große Druckerei erhalten geblieben. In nächster Zeit nimmt sie ihre Arbeit auf und dann hat die Bevölkerung auch wieder eine lokale Zeitung.
[…]
Wir fahren in den Schlossbezirk. Wir biegen am Obelisken mit ägyptischen Hieroglyphen ab und rollen durch ein gusseisernes Tor, welches von einem Wächter geöffnet wird. Wir fahren in den Park des Schlosses Sanssouci, welches im Jahre 1747 erbaut wurde. Hier wurden über die Jahrhunderte die Verschwörungen gegen Russland, Polen und Österreich gesponnen.
In den Kabinetten dieses Schlosses erarbeite vor rund zweihundert Jahren der preußische König Friedrich II. die Pläne zum Marsch gen Osten, die letztlich gründlich scheiterten. Am Ende des Siebenjährigen Krieges rückten die russischen Truppen, die Friedrich II. gründlich zusammengehauen hatten in Berlin und hier in Potsdam ein. Und heute, im Jahre 1945, ist dieses Schloss, an dessen Türen sowjetische Posten stehen, erneut Zeuge eines deutschen Zusammenbruchs, eines Scheiterns seiner Eroberungspläne.
Auf Befehl des hitlerschen Oberkommandos haben die deutschen Truppen genau hier, bei den Schlössern den letzten sinnlosen Widerstand geleistet. Die sowjetischen Truppen haben den Kampf so geführt, dass die Hitlertruppen verjagt wurden, die Schlösser dabei jedoch unbeschadet blieben. Sie wurden sofort unter Bewachung gestellt. Wie widerspricht doch dies alles dem, was die Deutschen mit unseren Denkmälern der Kunst und Geschichte gemacht haben! Wenn man die Säle der Potsdamer Schlösser betritt, ergreift einen unwillkürlich ein Gefühl des Grolls und der Wut, denkt man dabei an die Ruinen Peterhofs, die verbrannten Mauern des Schlosses in Gatschina oder die gesprengte Enfilade des Katharinenpalastes in Puschkin.
In Begleitung des Geheimrates Arthur Berg [6] durchschreiten wir eines nach dem anderen die Zimmer des Schlosses, betrachten die Säle, Schlafzimmer und Kabinette in denen Friedrich II. lebte. Wir werden von einer Gruppe kampferfahrener Offiziere begleitet. Sie sind enttäuscht: nach den Schlössern von Peterhof und Detskoe Selo [7] schockieren diese Bauten mit ihrer Kasernenhaftigkeit und ihrer plumpen und geschmacklosen Dekoration.
In jenem Zimmer, in dem einst Voltaire lebte, halten die sowjetischen Menschen inne. Mit dem Gefühl vollster Hochachtung erinnern sie sich des großen französischen Schriftstellerphilosophen.
Wir umfahren den Park und schauen uns das neue Schloss an, welches nach dem Siebenjährigen Krieg errichtet wurde. Nachher war es die Residenz des Kaisers Wilhelm II. Später versammelte hier der von Hitler zum Kanzler von Preußen ernannte Göring den preußischen Rat und rief die Geister Friedrichs. Dies hinderte jedoch die hitlerschen Anführer nicht daran, die wertvollsten Einrichtungsgegenstände des Schlosses in ihre eigenen Villen zu verschleppen.
B. Afanasew
K. Suchin
Potsdam im Mai [1945]. (Spez[ial]. Korr[espondenten]. TASS)
[1] Werin, Andrej Sacharovitsch; wiss.: Verin, Andrej Sacharovič (1907 – ?), war von 1945 bis 1948 Stadt- und Bezirkskommandant von Potsdam.
[2] Im Original germanskich imperatorov.
[3] Insgesamt bestanden spätestens im Juni 1945 zehn Stadteilkommandaturen, wobei hier auch Krampnitz und Geltow mitgezählt wurden. Vgl. FOITZIK, J.: Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltung in der SBZ und frühen DDR. Dokumente. Berlin/München/Boston. 2015. S.273.
[4] Gemeint ist der zweite Potsdamer Nachkriegsoberbürgermeister Dr. Heinz Zahn. Unter seiner Leitung entstanden verschiedene neue Ämter, die sich um die Probleme und den Wiederaufbau der Stadt kümmerten, wie zum Beispiel das Wohnungsamt, das Amt für Schulwesen, das Amt für Ernährung, das Amt für Handel und das Stadtbauamt. Er musste im Juli 1945 dem KPDler Walter Paul weichen.
[5] Gemeint ist die „Tägliche Rundschau“, eine ab dem 15. Mai 1945 von der Roten Armee in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegebene Zeitung.
[6] Berg, Artur (1889 – 1947) war seit spätestens 1923 als Geheimrat in der Generalverwaltung der Hohenzollern tätig und hatte dort später die Oberaufsicht über die Verwaltung des Besitzes des Hauses Hohenzollern inne.
[7] Detskoe Selo (russisch: Kinderdorf) war von 1918 bis 1937 der Name des St. Petersburger Vorortes Zarskoe Selo (seit 1937 „Puschkin“), in dem sich der Katharinenpalast mit dem Bernsteinzimmer befindet.
Quellen und Literatur
Sovetskaya Sibir‘. Organ Novosibirskogo obkoma i gorkoma VKP(b), oblastnogo i gorodskogo Sovetov deputatov trudyaščichsya. Ausgabe Nr. 99 (7804). 22.05.1945. Novosibirsk. http://нэб.рф/catalog/003673_000052_869CE6C6-7DD9-49C7-B6D7-2EFB454DF106/viewer/ (letzter Zugriff 18.08.2016.)
FOITZIK, J.: Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltung in der SBZ und frühen DDR. Dokumente. Berlin/München/Boston. 2015.
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